Kant und das Grundgesetz

Als vor einem Monat Immanuel Kants 300. Geburtstag gefeiert wurde, kam kaum eine Würdigung ohne den Hinweis aus, welchen Einfluss Kants Denken auf das Grundgesetz hatte:

„Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“

Daraus wurde vor 75 Jahren der Auftakt des Grundgesetzes:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Art. 1 GG)

Was es mit dieser Menschenwürde nach Kant auf sich hat, exemplifizierte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Februar 2006. Um Anschläge nach dem Vorbild des 11. September 2001 zu unterbinden, wollte die damalige Bundesregierung es ermöglichen, eine entführte Passagiermaschine von der Luftwaffe abschießen zu lassen, ehe Terroristen das Flugzeug zum Beispiel in ein voll besetztes Fußballstadion steuern. Lieber 200 Passagiere opfern als das Leben von 50.000 Fans zu riskieren – so sahen es in der TV-Abstimmung nach Ferdinand von Schirachs Inszenierung des Dilemmas auch erschreckende 80 Prozent der Zuschauer.

Denen und ihrer Regierung gab das BVerfG Nachhilfe und entschied, dass das novellierte Luftsicherheitsgesetz nicht zuletzt gegen Art. 1 GG verstößt. Das Leben der Passagiere gegen das der Stadionbesucher abzuwägen, entwürdige erstere „zum bloßen Objekt staatlichen Handelns.“

 

„so, dass du wollen kannst“

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Die Eleganz des kategorischen Imperativs liegt in dem „wollen können“, mit dem er weit über die „goldene Regel“ hinausgeht: „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem ander’n zu.“

Erstmals und bis heute einzigartig hat Kant die jedem Menschen gegebene Fähigkeit zu Vernunft und Autonomie zum hinreichenden Maßstab moralischen Handelns gemacht, ohne auf himmlische Belohnung oder höllische Bestrafung zu setzen oder den Schaden der wenigen mit dem Nutzen der meisten zu verrechnen.

Du kannst niemanden zum Beispiel aufgrund des Geschlechts diskriminieren, weil du nicht wollen kannst, aufgrund deines Geschlechts diskriminiert zu werden. Es ist unvernünftig, jemanden zu bestehlen, weil du nicht wollen kannst, dass man dir wegnimmt, was dir lieb und teuer ist.

Aber wenn du Selbstmord prinzipiell ablehnst, wie du es es nach Kant tun müsstest, kannst du dann wollen, dass todkranke Freunde und Verwandte langsam und qualvoll krepieren müssen anstatt sich aus ihrem elenden Sterben erlösen zu lassen?

Das strenge Verbot der geschäftsmäßigen (=auf Wiederholung angelegten) Sterbehilfe wurde vom BVerfG im Februar 2020 für verfassungswidrig erklärt, weil sich die Würde und Selbstbestimmung des Menschen auch und besonders bis ins Sterben und den Tod erstreckt. Eine Neuregelung des fraglichen § 217 StGB ist nach wie vor offen, nachdem im vergangenen Jahr keiner der drei überparteilichen Gesetzentwürfe im Bundestag eine Mehrheit erhielt.

 

Das hohe Ansehen des BVerfG

Es sind sicher auch solche wohlbegründeten Entscheidungen, die zum hohen Ansehen des BVerfG beitragen. In einer Umfrage von Infratest Dimap erklärten 80 Prozent der Befragten, großes Vertrauen in das Karlsruher Gericht zu haben.

Doch Recht haben und Recht bekommen sind auch beim Grundgesetz zwei verschiedene Dinge. Art. 20a GG verpflichtet den Staat zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen:

„Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“

Im März 2021 entschied das BVerfG, die Klimaschutzgesetzgebung der damaligen Bundesregierung verschiebe die „Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030“, sprich: Unzureichender Klimaschutz beschneidet die Freiheit kommender Generationen auf verfassungswidrige Weise.

„Das verfassungsrechtliche Klimaschutzziel des Art. 20a GG ist dahingehend konkretisiert, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur dem sogenannten ‚Paris-Ziel‘ entsprechend auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Um das zu erreichen, müssen die nach 2030 noch erforderlichen Minderungen dann immer dringender und kurzfristiger erbracht werden. Von diesen künftigen Emissionsminderungspflichten ist praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sind.“ (Beschluss vom 24. März 2021 – 1 BvR 2656/18)

Die Klimaschutzaktivist:innen von „Letzte Generation“ erinnern die Bundesregierung regelmäßig wie hier im August 2023 in Braunschweig an Art. 20a GG. (Foto: Letzte Generation)

Die gegenwärtige Bundesregierung geht davon aus, mit ihrem Klimaschutzgesetz die Ziele bis 2030 einhalten zu können. Umweltschutzverbände dagegen bleiben skeptisch, ob das 1,5°-Ziel des Pariser Abkommens überhaupt noch ohne eine göttliche Intervention zu erreichen ist, die entweder die Naturgesetze oder den Kapitalismus außer Kraft setzt.

 

Der Geist der FDGO

Die Schlankheit des Grundgesetzes ist eine seiner Stärken, auch wenn es mit seinen 146 Artikeln zum einen gar nicht so schlank ist. Zum anderen gibt es einige Artikel, die dem Alltag der meisten Menschen weit entrückt sind:

„Alle deutschen Kauffahrteischiffe bilden eine einheitliche Handelsflotte.“ (Art. 27 GG)

Was auch immer das zu bedeuten hat, es muss den Müttern und Vätern des Grundgesetzes wichtig genug gewesen sein, um es noch im ersten Fünftel unterzubringen.

Auch andere Dinge wären in einem Bundesgesetz besser aufgehoben als in dem Dokument, das den Geist der freiheitlich-demokratischen Grundordnung darstellen soll. Das 100-Millarden-Euro-Sondervermögen der Bundeswehr braucht mit Art. 87a (1a) GG einen eigenen Absatz, weil ihm sonst Art. 109 (3) GG im Weg stünde: die sogenannte Schuldenbremse, die man auch als Investitionssperre bezeichnen kann.

Sowohl deren Befürworter als auch deren Gegner behaupten, die Interessen der nachfolgenden Generationen zu vertreten. Der Streit um die Schuldenbremse ist auch ein gutes Lehrstück über das, was die Politikwissenschaft die vertikale Gewaltenteilung im Föderalismus nennt.

 

Grundgesetz ändern

Es gehört wahrlich nicht alles ins Grundgesetz und es ist – als Grund aller Gesetzgebung – auch nicht beliebig veränderbar:

„Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ (Art. 79 (3) GG)

Es ist ganz gut, dass es für alle Änderungen eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat braucht. Das macht es schwierig, sowohl bestehende Artikel aufzublähen als auch den freiheitlich-demokratischen Geist in zeitgemäße Form zu bringen. Auch seine jüngste Auflage ist noch komplett in alter Rechtschreibung, weil niemand in Berlin scharf darauf ist, 146 Anträge zur Änderung von „daß“ in „dass“ durch Bundestag und Bundesrat zu bringen.

Mit dem bereits erwähnten Artikel 20a wurde am 27. Oktober 1994 erstmals auch der Umweltschutz als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen. 2002 wurde der Artikel ergänzt um die drei Worte „und die Tiere“. Doch Staatsziele sind nicht einklagbar, schon gar nicht von Tieren, die noch einen langen Weg vor sich haben, um als Rechtssubjekte zu gelten.

Das Wort „Rasse“ kommt weiterhin im Grundgesetz vor, obwohl es keine Menschenrassen gibt. Kinderrechte fehlen weiterhin, obwohl es sie gibt oder wenigstens geben sollte.

Doch man kann die Verfassung auch ändern, ohne eine Zweidrittelmehrheit zu haben oder gar im Parlament zu sitzen. Kurz nach der Wiedervereinigung reichten dafür Baseballschläger und Molotow-Cocktails sowie eine rassistische Hetzkampagne nicht nur der Boulevardmedien. Der sogenannte Asylkompromiss von 1992 schränkte Art. 16a GG so weit ein, dass praktisch nur noch sehr prominente Dissidenten eine Chance auf politisches Asyl in Deutschland haben.

Die jugendlichen Täter von Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln und Solingen, die wenn überhaupt nur sehr milde bestraft wurden, sind heute in ihren 50ern. Sie werden in seliger Erinnerung haben, wie sie mit Mordanschlägen auf Menschen, die in Deutschland eh nicht wählen durften, ihren rassistischen Willen in Bundestag und Bundesrat durchsetzten.

Einige ihrer Kameraden und Sympathisanten von damals haben – sofern sie nicht irgendwann mal Kant gelesen und (im Gegensatz zu Adolf Eichmann) verstanden haben – die Springerstiefel inzwischen gegen Maßanzüge getauscht. Sie arbeiten daran, nach polnischem oder ungarischem Vorbild den Boden zu vergiften, auf und in dem der Rechtsstaat wurzelt.

So ist auch die Diskussion, wie man die Verfassung und ihre Organe vor den Neofaschisten schützen kann, 75 Jahre nach Verkündigung des Grundgesetzes ziemlich zeitgemäß.

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